Everett, Daniel: How Language Began: The Story of Humanity’s Greatest Invention
Das nur auf Englisch erhältliche Buch bietet auf 292 Seiten eine spannende und provokative These über die Ursprünge der Sprache. Der Linguist und Anthropologe ist dafür bekannt, traditionelle Ansichten über Ursprung und Struktur von Sprache(n) infrage zu stellen. Er argumentiert hier, dass über 60.000 Generationen von Menschen Sprache besitzen und Sprache mindestens eine Million Jahre alt und nicht das exklusive Produkt des Homo sapiens ist. Dass schon Homo erectus eine Sprache besaß, widerspricht den gängigen Theorien, wonach die menschliche Sprache erst vor etwa 100.000 bis 200.000 Jahren entstanden ist.
Everett stellt sich damit besonders gegen Noam Chomskys Theorie, die besagt, dass Sprache auf einem genetisch verankerten Modul oder einem Instinkt für Sprache (engl. language instinct) basiert, was er Universalgrammatik nennt. Unser Gehirn sei sozusagen mit einem bestimmten Schema für Grammatik ausgestattet und die fundamentalen Grundlagen der Grammatik angeboren sind. Für jeden Studenten der Übersetzungswissenschaften ist Noam Chomsky eine zentrale Figur der modernen Linguistik. Lange wurde seine Theorie kaum ernsthaft in Zweifel gezogen.
Everett jedoch hinterfragt etablierte Theorien. Für ihn ist Sprache nämlich ein multimodales Werkzeug, das weit über verbale Kommunikation hinausgeht und auch Gesten und andere Formen des Ausdrucks umfasst. Er sieht in Sprache ein soziales Werkzeug, das sich aus dem Bedürfnis heraus entwickelt hat, Wissen zu teilen und Beziehungen zu festigen. Dies stützt er mit Beispielen aus seiner eigenen Feldforschung, insbesondere bei den Pirahã, einem indigenen Volk im Amazonasgebiet, wo er die nötigen evolutionären und kognitiven Voraussetzungen für die Entwicklung von Sprachen untersucht hat. Die Sprache der Pirahã weist seiner Meinung nach einzigartige Merkmale auf, die herkömmlichen linguistischen Theorien widersprechen.
Für mich als Übersetzerin und Dozentin ist Everetts Betonung der sozialen und kulturellen Wurzeln von Sprache besonders relevant. Sprache ist ja nicht nur ein System von Zeichen und Regeln, sondern auch ein sozialer Akt. Diese Sichtweise unterstützt eine stärkere Berücksichtigung kultureller Kontexte und kann helfen, in Übersetzungen nicht nur Worte, sondern auch die mitgeteilte Erfahrung und emotionale Tiefe des Originals zu transportieren. Als Übersetzer kann man die sprachliche Vielfalt und kulturellen Eigenheiten besser berücksichtigen und feiner auf die Nuancen und Intentionen eines Textes eingehen anstatt sich nur auf die wörtliche Bedeutung zu fokussieren.
Meine Empfehlung: Das Buch ist für Übersetzer, Sprachdozenten, aber auch Studenten und einfach jeden Sprachliebhaber, der sich über das reine Erlernen einer Sprache hinaus für Sprachen interessiert, eine spannende Lektüre.
Es liefert einen faszinierenden und unkonventionellen Blick auf Sprache, ihre Ursprünge und ihre Funktion in der menschlichen Gesellschaft. Everetts Ideen können für Sprachdozenten und Übersetzer neue Perspektiven bieten und ihre Arbeit nicht nur bereichern, sondern auch tiefer verwurzeln. Die Betonung der sozialen Funktion und der multimodalen Aspekte von Sprache liefert ein solides Fundament, was nicht nur den Text, sondern auch den kulturellen und sozialen Kontext eines Werkes für einen dynamischen, kulturell sensiblen und lebensnahen Sprachunterricht und auch für die Übersetzungsarbeit überträgt.
Für Sprachdozenten könnte das Buch ein Anstoß sein, auch andere linguistische Konzepte zu reflektieren und im Unterricht kritisch zu hinterfragen und Sprache nicht nur als ein starres System zu betrachten, sondern als ein Produkt menschlicher Erfahrung.
Everetts Ansatz könnte Dozenten inspirieren, mehr auf die natürlichen, alltäglichen Aspekte von Sprache und Kommunikation einzugehen. Anstatt Sprache isoliert als System von Regeln zu behandeln, könnte man sie als lebendige Ausdrucksform vermitteln, die sich in sozialen Kontexten entfaltet. Die Geschichte und Entwicklung der Sprache aus einem anthropologischen Blickwinkel zu betrachten, kann den Unterricht bereichern und Studierenden und Lernenden ein tieferes Verständnis für die Menschlichkeit und Evolution der Sprache geben. Da Everett betont, dass Sprache multimodal ist, könnte man Methoden in Betracht ziehen, die nicht nur verbale, sondern auch gestische und nonverbale Elemente integrieren. Vor allem beim Erlernen einer Sprache könnte eine solche Herangehensweise den Lernenden helfen, die natürliche „Musik“ einer Sprache zu erfassen und die Sprachmelodie und Gestik zu verinnerlichen – Aspekte, die ebenfalls stark kulturabhängig sind.
Everetts Forschungsansatz ist stark interdisziplinär, da er linguistische, anthropologische und kognitive Gesichtspunkte verbindet. Diese Vielseitigkeit könnte für Dozenten auch eine Inspiration sein, die Ursprünge und Evolution der unterrichteten Sprachen zu beleuchten und könnte dem Sprachunterricht eine weitere, tiefgründige Ebene hinzufügen. Die historische Dimension einer Sprache – ihre Entwicklung und die Veränderungen im Laufe der Zeit – ist m.E. für jeden mit Etymologie-Interesse besonders spannend.
– Everett, Daniel (2018), How Language Began: The Story of Humanity’s Greatest Invention, Profile Books
– Chomsky, Noam (1998), On Language, The New Press